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“Volle Fahrt voraus und Kurs auf‘s Riff”

Screenshot von Investing.com vom 17.03.2020 um 14:20

In Europa steigen wieder die Zinsen für Staatsanleihen. Allein heute sprang der Risikoaufschlag für italienische Anleihen um bisher mehr als 10 %. Auch spanische Anleihen stehen zunehmend unter Druck der Finanzmärkte (vgl. FT, 17.03.2020). Dies ist umso problematischer, da diese Länder einen Großteil ihrer Aktivitäten zur Eindämmung des Corona-Virus über die Anleihenmärkte refinanzieren. Mit dem Wachsen der Kreditkosten steigt auch die Wahrscheinlichkeit einer erneuten Schuldenkrise.

Die Reaktionen der Finanzmärkte sind Ausdruck davon, dass die Eurokrise von 2009 auch nach ihrer offiziellen Überwindung noch weiter geschwelt hatte. Während die europäischen Eliten die Krise bereits ab 2012 als überwunden bezeichneten, konnten die südeuropäischen Mitgliedsstaaten ihr wirtschaftliches Niveau von vor der Krise bis heute nicht erreichen (vgl. Sablowski/Schneider/Syrovatka 2018). Zwar sanken zwischenzeitlich die Spreads, d.h. die Zinsen für Staatsanleihen im Vergleich zu Deutschland, jedoch zeigte jede Korrektur an den Aktienmärkten, wie prekär diese Ruhe ist.

Die Ursache dafür liegt darin, dass der Kern der Krise nie wirklich angegangen wurde: die fehlerhafte Konstruktion der Eurozone als auch die Re-Regulierung der Finanzmärkte. Insbesondere eine Reform der Eurozone in Richtung einer Risikoteilung und einer stärkeren Konvergenz der Euroländer wurde hauptsächlich von Deutschland und den nordeuropäischen Ländern mit Verweis auf Moral Hazards und die Gefährdung der europäischen Stabilitätskultur vehement abgelehnt (vgl. Schneider/Syrovatka 2019). Zuletzt biss sich Emanuel Macron mit seinen Vorschlägen eines europäischen Finanzministers und einem Eurozonenbudget die Zähne aus. Die in der Krise institutionalisierten austeritätspolitischen Instrumente dagegen ziele durch ihre einseitige Fokussierung auf Haushaltsdefizite auf eine Festschreibung der Stabilitätsunion (vgl. Syrovatka/Schneider 2019). Ebenso werden nur jene Länder mit Handelsbilanzdefiziten bestraft, nicht jedoch Länder wie Deutschland, die hohe Handelsbilanzüberschüsse aufweisen. Wirtschaftliche Ungleichgewichte werden nur dann bearbeitet, wenn sie nicht der deutschen Exportorientierung widersprechen. Dadurch blieben die bestehenden Ungleichgewichte in der Eurozone bestehen. Hinzu kommt ein weiterhin weitestgehend unregulierter Finanzmarkt. Viele Re-Regulierungen wie das Verbot von Swaps wurden wieder rückgängig gemacht. Die Bankenunion ist weiterhin unvollendet, es fehlt an einem europäischen Einlagensicherungssystem ebenso wie an einem Backstop zur Abwicklung von Zombiebanken (vgl. Guntrum 2019).

Die Eurozone ist wahrlich schlecht aufgestellt für eine erneute Eurokrise, die aller Voraussicht durch die weltwirtschaftlich angehäuften Überkapazitäten in der Produktion, dem weltweiten Finanzcrash durch ein Überangebot an Liquidität als auch durch die Unterbrechung von Liefer- und Produktionsketten (vgl. The Economist, 15.02.2020), noch tiefer und härter ausfallen wird als 2008/2009. Hinzu kommt, dass die EZB heute viel weniger Eingriffsmöglichkeiten hat als noch vor zehn Jahren. Als Lender of Last Resort sind ihre wichtigsten Instrumente abgenutzt. Ihr Pulver ist durch eine jahrelange Politik niedriger Zinsen und Anleihenkäufe weitestgehend verschossen. Nicht umsonst reden wir heute bereits über Helikoptergeld und Ähnliches (Handelsblatt, 17.02.2020).

Die Linke in Europa sollte sich daher auf eine tiefe Krise gefasst machen, die die EU vor dem Rand des Zusammenbruchs stellen wird. Es kommen nun jene Zeiten, in der das Neue endlich geboren werden kann. Dafür dürfen wir den “Monstern” (Zizek) nicht die Bühnen überlassen, sondern ein eigenes Projekt für ein solidarisches Europa formulieren. Ich halte dafür Ideen wie den Green New Deal, der breite Bevölkerungsteile einbinden könnte, als ein geeignetes Projekt, die Krise von Links als historische Situation nutzbar zu machen.

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Die neue Europäische Arbeitsmarktpolitik oder wie die EU die nationalen Arbeitsmarktpolitiken beeinflusst

Der Artikel erschien am 02.04.2019 in gekürzter Fassung auf dem Blog „Arbeit und Wirtschaft“ der Arbeiterkammer Österreich und des ÖGBs unter dem Titel „Frankreich im Fokus der Neuen Europäischen Arbeitsmarktpolitik“

Im Zuge des europäischen Krisenmanagements wurde auf der europäischen Ebene ein umfangreiches Ensemble aus formellen und informellen, institutionalisierten und nicht-institutionalisierten, ökonomischen und sozialpolitischen Reglungs-, Überwachungs-, und Durchsetzungsformen durchgesetzt, mit denen die Rahmenbedingungen für eine nationale Arbeitsmarkregulierung und eine eigenständige Arbeitsmarktpolitik erheblich einschränkt wurden. Diese Neue Europäische Arbeitsmarktpolitik folgt dabei einem marktliberalen Politikmodus, welcher die Handlungsspielräume der Gewerkschaften und Arbeitnehmerorganisationen durch die Dezentralisierung von Lohnfindungs- und Tarifvertragssysteme, einer Flexibilisierung von ArbeitnehmerInnenrechten sowie die Senkung von Mindestlöhnen und der Abbau von Arbeitsversicherungsleistungen mitsamt der Implementierung von Aktivierungs- und Sanktionsmechanismen. Während die Eingriffe in die nationalen Arbeitsmarkt- und Tarifstrukturen in den sogenannten Troika-Ländern (Griechenland, Portugal, Spanien, Irland) im Zentrum des öffentlichen Interesses standen, blieben die Auswirkungen auf jene Länder, welche weniger stark von der Krise betroffen waren, in der Vergangenheit unterbelichtet.

Arbeitsmarktpolitik im Zentrum marktliberaler Krisenpolitik

Bereits 1978 hatte Elmar Altvater in einem wegweisenden Artikel zu den „Austerity Tendenzen in Westeuropa“ darauf hingewiesen, dass die Reduktion der Lohnstückkosten – neben Eingriffen in den Staatshaushalt – der zentrale Ansatzpunkt ordoliberaler Krisenpolitik ist. Im Kern zielt diese auf eine Wiederherstellung optimaler Verwertungsbedingungen für die Unternehmen und eine Steigerung ihrer Profitabilität. Dies geschieht jedoch nicht dadurch, dass die Produktivität, etwa durch eine umfassende staatliche Industriepolitik, gesteigert, sondern die Lohnkosten gesenkt werden. Dementsprechend zielt ein ordoliberales Krisenmanagement in erster Linie auf eine Reduktion der Lohnkosten und eine strukturelle Schwächung der Lohnfindungsinstitutionen sowie der organisierten Arbeiterbewegung bspw. der Gewerkschaften. Ausgehend von der Dominanz der Neoklassik in den Wirtschaftswissenschaften, war es daher nicht weiter überraschend, dass auch die Bearbeitung der Krise ab 2007ff. den marktliberalen Mustern der Austeritätspolitik folgte und die Arbeitsmarktpolitik zum zentralen Gegenstand europäischer Reformbemühungen wurde. Wie Ortiz u.a. (2015: 12) ausführen, wurde in Reaktion auf die Krise in 89 Ländern Maßnahmen zu Arbeitsmarktflexibilisierung beschlossen, darunter u.a. die Dezentralisierung der Tarifstrukturen und die Lockerung des Kündigungsschutzes.

Neue Europäische Arbeitsmarktpolitik

Die Herausbildung der Neuen Europäischen Arbeitsmarktpolitik war daher sowohl in ein marktliberales Krisennarraritiv als auch in eine weltweite austeritätspolitischen Entwicklungsdynamik eingebettet, welche nicht zuletzt aus einer Revitalisierung und Verhärtung der ordoliberaler Wirtschaftsideologie getrieben war. Das Besondere an der europäischen Entwicklung liegt jedoch darin begründet, dass die europäische Krisenbearbeitung dazu geführt hat, dass zentrale Kompetenzen in der Arbeitsmarktregulierung dauerhaft auf die europäische Ebene transponiert und dort institutionell verankert sowie zum Teil auch verfassungsrechtlich abgesichert wurden. Folgt man Altvater in seiner Analyse, so wurden die beiden zentralen Instrumente ordoliberaler Krisenpolitik d.h. die Reduktion der Lohnkosten als auch des Staatshaushaltes, auf die europäische Ebene verlagert und dort konstitutionell festgeschrieben.

Schaut man sich die dafür geschaffenen Governancemechanismen konkret an, so erkennt man ein engmaschig verknüpftes Bausteinsystem arbeitsmarktpolitischer Koordinierung. Auch wenn hier nicht der Platz ist, um detailliert auf die einzelnen Instrumente eingehen zu können, so sollen doch kurz die einzelnen Säulen der Neuen Europäischen Arbeitsmarktpolitik erläutert werden:

1.) Mit der 2010 verabschiedeten Europa-2020-Strategie wurde das sogenannte Europäische Semester etabliert, dass die bisher bestehenden Koordinierungsprozesse wie die Europäische Beschäftigungspolitik bündelt, aufeinander abstimmt und politische Empfehlungen für die jeweiligen Nationalstaaten formuliert. Die länderspezifischen Empfehlungen als Kern des Europäischen Semesters basieren auf unterschiedlichen rechtlichen Regelungen und umfassen sowohl die wirtschafts- und beschäftigungspolitische Koordinierung, den Stabilitäts- und Wachstumspakt als auch das 2011 geschaffene Makroökonomische Ungleichheitsverfahren. Im Europäischen Semester findet sowohl eine umfangreiche Datenerhebung über die wirtschafts- und beschäftigungspolitische Situation der europäischen Mitgliedsstaaten statt als auch ein Benchmarkingprozess, der den einzelnen Ländern permanent vergleicht. Damit stellt das Europäische Semester die Schaltzentrale der Neuen Europäischen Arbeitsmarktpolitik dar. Hinzu kommt eins mehrstufigen makroökonomischen Überwachungssystems, welches die wirtschaftliche Entwicklung der Mitgliedsstaaten anhand eines sogenannten Scoreboards permanent überwacht. Die darin definierten Indikatoren umfassen u.a. die Entwicklung der Lohnstückkosten oder Löhne. Verbunden ist das Europäische Semester zudem mit einer Reihe finanzieller Sanktionsmöglichkeiten, welche die Verbindlichkeit der länderspezifischen Empfehlungen erhöht. Waren die arbeitsmarktpolitischen Empfehlungen vor der Krise lediglich symbolischer Natur, kann ihre Nichtbefolgung heute zu empfindlichen Geldstrafen bis hin zur Aussetzung der Struktur- und Kohäsionsfondsmittel führen. Denn seit der Reform der Kohäsionspolitik 2013 kann der Europäische Rat über den Artikel 23 der ESI-Verordnung auf Vorschlag der Kommission jene Gelder, welche für wirtschaftliche Angleichung der europäischen Regionen vorgesehen sind, vollständig einfrieren. Damit umfasst die Neue Europäische Arbeitsmarktpolitik auch nicht nur die Euro-Staaten, sondern tendenziell alle EU-Mitgliedsstaaten.

2.) Die zweite Säule der Neuen Europäischen Arbeitsmarktpolitik stellt die Politik der Europäischen Zentralbank (EZB) dar und kann als eine Form des „europäischen Interventionismus“ charakterisiert werden. Im Zuge der Krisenbearbeitung hatte die EZB mehrere groß angelegte Anleihenkaufprogramme (SMP, OMT, PSPP) gestartet, jedoch den Ankauf an spezifische Bedingungen für die betroffenen Staaten geknüpft. So verschickte die EZB Briefe an die jeweiligen Regierungen und forderte diese dazu auf, im Gegenzug ihre Arbeitsmärkte zu reformieren und die Tarifstrukturen zu dezentralisieren. In den Fällen Spanien und Italien sind diese Briefe öffentlich geworden, jedoch betonte der damalige EZB-Präsident Jean-Claude Trichet in einem Interview, dass diese Form der „informellen Konditionalität“ zum Alltagsgeschäft der EZB gehöre und solche Auflagebriefe regelmäßig an einzelne Regierungen verschickt werden.

3.) Die dritte Säule umfasst die institutionalisierten Rettungsmaßnahmen für die Eurozone sowie die etablierte Kreditpolitik für die Nicht-Eurostaaten. In beiden Fällen wurden im Gegenzug für Kredite (im Rahmen des EFSF bzw. später des ESM oder im Rahmen von sogenannten Zahlungsbilanzdarlehen nach Artikel 143 AEUV) umfangreiche Strukturreformen mit einer sogenannten Troika aus EZB, EU-Kommission und Internationalem Währungsfonds (IWF) vereinbart. Kern der verordneten Strukturreformen war auch hier der Arbeitsmarkt sowie die Lohnbildungsstrukturen. Ein Blick auf die betroffenen Staaten wie bspw. Rumänien oder Griechenland zeigt, dass dort die etablierten arbeitsmarkt- und tarifpolitischen Strukturen durch die Troika vollständig zerschlagen wurden. Branchenübergreifende Tarifverhandlungen wurden abgeschafft und auf die Unternehmensebene verlagert oder sogar individualisiert. Folgt man dem griechischen gewerkschaftsnahen Forschungsinstitut INE, dann gingen im Jahr 2016 nur noch 6,55% aller Tarifabschlüsse über die Unternehmensebene hinaus, während die meisten Lohnabschlüsse individuell ausgehandelt werden. Diese Säule der Neuen Europäischen Arbeitsmarktpolitik stellt somit die stärkste Form der Einflussnahme auf die nationalen Arbeitsmarktpolitiken dar. Sie beschränkt nicht nur die Rahmenbedingungen für eine nationale Arbeitsmarktpolitik, sondern greift konkret in die arbeitsmarkt- und tarifpolitischen Strukturen der EU-Mitgliedsstaaten ein, womit sie mit dem Begriff des „arbeitsmarktpolitischen Interventionismus“, wie ihn Thorsten Schulten und Torsten Müller vorschlagen, beschrieben werden.

Zusammen genommen stellen die drei Säulen eine neue arbeitsmarktpolitische Regelungsstruktur auf der europäischen Ebene dar, welche sich aus dem konkreten Zusammenspiel von regelbasierten, formellen und informellen sowie institutionalisierten Strukturen, Foren und Gremien ergibt. Diese sind eng miteinander verzahnt und verkoppelt und bilden in ihrer Gesamtheit jenes Ensemble, dass als Neue Europäische Arbeitsmarktpolitik beschrieben werden kann.

Länderspezifische Empfehlungen zielen auf die Arbeitsmarktpolitik

Eine Analyse der länderspezifischen Empfehlungen im Rahmen des Europäischen Semesters zwischen 2011 und 2018 macht den Fokus des europäischen Krisenmanagements auf die nationalen Arbeitsmarkt- und Tarifstrukturen deutlich. So forderte die EU-Kommission von 20 Mitgliedsstaaten einen Abbau von Arbeitsversicherungsleistungen und/oder die Implementierung von Aktivierungs- und Sanktionsmechanismen in die nationale Arbeitslosenversicherung. 13 Mitgliedsstaaten forderte sie auf den Arbeitsschutz zu lockern und insbesondere den Kündigungsschutz oder die Arbeitszeitregelungen zu flexibilisieren. 9 Mitgliedsstaaten erhielten die Empfehlung ihre Mindestlöhne zu senken. Besonders bemerkenswert sind die Forderungen nach der Dezentralisierung und/oder eine Deregulierung der Lohnfindung, die an insgesamt 12 Mitgliedsstaaten herangetragen wurde. Denn in den europäischen Verträgen wurde die Lohnpolitik explizit aus dem Kompetenzbereich der EU ausgeschlossen.

Frankreich im Fokus der Neuen Europäischen Arbeitsmarktpolitik

Als eines der ersten Länder geriet Frankreich in den Fokus der Neuen Europäischen Arbeitsmarktpolitik. Während bereits ab 2009 ein Defizitverfahren im Rahmen des SWP eingeleitet worden war, verstärkte sich ab 2011 der Fokus der Europäischen Kommission auf die französische Arbeitsmarktregulierung. Ab 2013 leitete die Kommission zudem ein Verfahren bei übermäßigen makroökonomischen Ungleichgewichten gegen Frankreich ein, womit die französische Arbeitsmarktregulierung einem speziellen Monitoring unterlag. Nach Ansicht der Kommission und des Rates in den länderspezifischen Empfehlungen leidet die französische Wirtschaft neben einer Schuldenkrise insbesondere an einer Wettbewerbskrise und einer strukturellen Arbeitsmarktschwäche. Zu hohe Arbeitskosten, ein zu hoher Mindestlohn und eine zu geringe Unternehmensflexibilität in „allen Aspekten der Beschäftigungsbedingungen“ würden die Wettbewerbskrise weiter vertiefen. Die Arbeitsmarktschwäche wiederum resultierte für die europäischen Institutionen in erster Linie aus dem zu starren Kündigungsschutz und einer zu wenig aktivierenden Arbeitsmarktpolitik. Der Analyse folgten die entsprechenden Empfehlungen. In allen länderspezifischen Empfehlungen für die Jahre 2011 bis 2017 finden sich die Forderungen nach einer Drosselung des Mindestlohnentwicklung, einer Liberalisierung reglementierter Berufe sowie nach einer Lockerung des Kündigungsschutzes.

Mit der Einleitung des Verfahrens bei übermäßigen Ungleichgewichten ab 2013 gerieten arbeitsgesetzlichen und lohnpolitische Maßnahmen in den Fokus der Wettbewerbsanalyse. So schrieb die Kommission in den länderspezifischen Empfehlungen für 2014, dass „Wage-setting in France tends to result in distortion of the wage structure and limit the ability to firms to adjust wages in economic downturns”. Die weitgehend auf Branchenebene stattfindenden Tarifverhandlungen wurden von der Kommission als Achillesverse für die Resilienz der französischen Wirtschaft erkannt, womit sich die länderspezifischen Empfehlungen fortan darauf konzentrierten: Frankreich wurde aufgefordert sein Lohnbildungssystem zu dezentralisieren, um „to ensure that wages evolve inline with productivity“. Zugleich drängte die Europäische Kommission auf eine Flexibilisierung der Arbeitszeiten und eine Lockerung des Kündigungsschutzes.

Im Jahr 2015 spitzte sich der Druck von Seiten der europäischen Institutionen zu. Nachdem die französische Regierung im Zuge der Terroranschlägen auf die Redaktion von Charlie Hebdo im Januar 2015 ankündigte, aufgrund der Mehrausgaben für Polizei und Militär den SWP erneut brechen und die Vorgaben zur Neuverschuldung nicht erfüllen zu können, erhöhte die Kommission den Druck die geforderten arbeitsmarktpolitischen Empfehlungen umzusetzen.

Bereits im Februar 2015 drohte die Kommission in einer Vorlage für den Europäischen Rat mit der Verhängung eines Korrekturmaßnahmeplan und finanziellen Sanktionen. In ihrem Monitoringreport im Zuge des Defizitverfahrens forderte die Kommission die französische Regierung auf „reduce the costs associated with the implementation of regulations comcerning working time arrangements, beyond contributing to better alihn wages with productivity”. In der vom Rat beschlossenen Empfehlung im Rahmen des Defizitverfahrens wird von finanziellen Sanktionen abgesehen, jedoch eine sechsmonatige Frist vereinbart, in der konkrete Maßnahmen umgesetzt und das Land sich einem erneuten Monitoring zu unterziehen hat. Zugleich wurde eine strengere halbjährliche Überwachung, primär im Bereich der Arbeitsmarktregulierung durch die Kommission beschlossen.

Auch die länderspezifischen Empfehlungen im Rahmen des Europäischen Semesters zielten besonders auf die Arbeitsmarkt- und Tarifstrukturen. Durch das Verfahren makroökonomischer Ungleichgewichte erhielten die Empfehlungen besondere Aufmerksamkeit, da mit ihnen die Möglichkeit weiterer finanzieller Sanktionen verbunden war. Die im Mai 2015 veröffentlichten Empfehlungen forderten eine Deregulierung des Lohnbildungssystems, eine Flexibilisierung des Kündigungsrechts sowie eine grundlegende Reform des Arbeitsrechts:

“reform the labour law to provide more incentives for employers to hire on open-ended contracts. Facilitate take up of derogations at company and branch level from general legal provisions, in particular as regards working time arrangements” (2015: 55)

Die “Empfehlungen” der Kommission fanden sich dann auch kurze Zeit später im Gesetzentwurf für die Reform des französischen Arbeitsrechts, dem sogenannten Loi El Khomri wieder. Das im Jahr 2015 vorgelegte und im Frühjahr 2016 beschlossene Gesetz, das neben den EU-Institutionen vor allem von den französischen Unternehmensverbänden MEDEF und afep gefordert und gefördert wurde, sah u.a. eine Lockerung und Verwässerung der Überstundenregelung und des Kündigungsschutzes sowie eine Umkehrung der Normrangfolge für betriebliche Vereinbarungen und Tarifverträge vor. Fortan ist es den Arbeitgebern in Frankreich möglich, die Wochenarbeitszeit auf 48 Stunden (in Ausnahmefällen sogar auf 60 Stunden) zu erhöhen und eine tägliche Arbeitszeit von 12 Stunden anzuordnen. Die 35-Stunden-Woche muss nur noch in einem Durchschnitt von 3 Jahren eingehalten und kann auch hier durch betriebliche Vereinbarungen vollständig ausgehebelt werden. Seine Verabschiedung stellte den größten Abbau von Arbeitnehmerrechten und führte zu einer massiven strukturellen Schwächung gewerkschaftlicher Machtressourcen.

Die europäischen Institutionen agierten dabei nicht nur im Vorfeld der Reform als Agenda Setter, sondern übten auch während des Reformprozesses medialen und institutionellen Druck auf die Regierung von Präsident Francois Hollande aus. Kurz vor der Verabschiedung des Loi El Khomri veröffentliche die Kommission etwa ein Arbeitspapier, in der sie die Reform des Arbeitsrechts als Schlüssel zur Drosselung der Lohnstückkostenentwicklung bezeichnete. Zudem äußerten sich EU-Wirtschaftskommissar Moscovici und Vizekommissionspräsident Dombrowski während des Gesetzgebungsprozesses in verschiedenen Interviews und warnten öffentlich vor einer Abschwächung des Reformpaketes. Auch die deutsche Bundesregierung erhöhte den Druck auf die französische Regierung und drohte damit, einer Verlängerung des Defizitverfahrens im Rahmen des SWP nicht zuzustimmen, sollten keine überzeugenden reformpolirischen Schritte in der Arbeitsmarkregulierung eingeleitet werden. Vor allem der deutsche Finanzminister kritisierte immer wieder die arbeitsmarktpolitische Situation in Frankreich und regte im April 2015 sogar an, dass das französische Parlament, ähnlich wie in Spanien, doch mit Zwang von der „Notwendigkeit von Arbeitsmarktreformen“ überzeugt werden müsste.

Eine neue arbeitsmarktpolitische Regelungsstruktur für Europa

Wie das französische Beispiel zeigt, wurde auf europäischer Ebene eine neue arbeitsmarktpolitische Regelungsstruktur durchgesetzt, welche je nach spezifischer Form, direkten oder indirekten Einfluss auf die Arbeitsmarktregulierung ausübt und den nationalen arbeitsmarktpolitischen Handlungsspielraum einschränkt.

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Nix Neues aus Merseberg

Quelle: Bundesregierung/Bergmann https://www.bundesregierung.de/Webs/Breg/DE/Mediathek/Einstieg/mediathek_einstieg_fotos_node.html;jsessionid=EA1522290B4953D0D698697FD3419C4B.s2t2?cat=fotos

„Hier war die Arbeit am kompliziertesten“, räumte die Kanzlerin ein, als sie auf der Pressekonferenz das Thema Wirtschafts- und Währungsunion ansprach. Und damit hatte sie die Probleme im deutsch-französischen Verhältnis pointiert auf den Punkt gebracht: In der Frage der konkreten Ausgestaltung der Eurozone prallten zwei Europavorstellungen aufeinander: Wirtschaftsregierung vs. Stabilitätsunion

Zuletzt hatte Emmanuel Macron nach seiner Wahl zum französischen Staatspräsidenten mit weitreichenden Vorschlägen die Debatte wieder dynamisiert und letztendlich die deutsche Bundesregierung unter Druck gesetzt. Macron schlug faktisch die Einrichtung einer europäischen Wirtschaftsregierung vor, mitsamt eines europäischen Finanzministers, welcher über weitreichende Kompetenzen sowie ein eigenes Budget verfügen sollte. Der europäische Finanzminister sollte einem eigenständigen Eurozonenparlament rechenschaftspflichtig sein. Mit einer sogenannten Fiskalkapazität sollten darüber hinaus die Euro-Mitgliedsstaaten gestützt werden können. Die Fiskalkapazität sollte sich aus eigenen Mitteln – Macron nannte vor seiner Wahl das Instrument der Eurobonds – finanzieren können. Erschreckt von den Vorschlägen der Franzosen und der eigenwilligen Interpretation dieser Vorschläge von Seiten der Kommission („Nikolauspaket“) verschlug es den deutschen Verantwortlichen erst die Sprache, um danach die klare Position des „Ja aber…“ zu vertreten. Die Meseberger Erklärung des deutsch-französischen Ministertreffens gestern sollte daher den Durchbruch einer seit Jahren geführten Debatte über die konkreten Schritte einer Vertiefung der Währungs- und Wirtschaftsunion bringen.

Schaut man sich nun die Ergebnisse des Meseberger-Gipfels an, so sind diese in keiner Weise als Durchbruch zu bezeichnen. Nimmt man die vielen Phrasen und Allgemeinplätze aus der Erklärung heraus, so bleibt nur noch ein Eurozonenbudget sowie die Weiterentwicklung des Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) übrig. Der Finanzminister, das Eurozonenparlament sind im Text nicht mehr vorhanden, die vorgeschlagene Fiskalkapazität soll „geprüft“ werden. In Meseberg wurden Macrons Vorschläge so weichgeklopft, dass sie jetzt auch in das das deutsche Europaprojekt einer Stabilitätsunion passen. Sie schrumpften zur Frace, was noch offensichtlicher wird, betrachtet man die verbliebenen Ideen Macrons noch einmal genauer.

Die Umwandlung des ESM in einen Europäischen Währungsfonds (EWF) war in der Vergangenheit wohl jener Vorschlag, wo Deutschland und Frankreich große Schnittmengen aufwiesen. Man war sich einig, dass der ESM in europäisches Recht überführt werden und eine zentralere Rolle in der Krisenbearbeitung spielen sollte. Doch selbst dieser Kompromiss kam nicht zustande. Zwar sieht die deutsch-französische Erklärung vor, dass der ESM in der Quadriga (ehemals Troika) eine größere Rolle spielen soll, jedoch sollen sowohl IWF, EZB als die Europäische Kommission in die Überwachung und Kontrolle der Programmländer eingebunden bleiben. Zudem soll der ESM auch erstmal zwischenstaatlich bleiben und erst in einem zweiten Schritt in EU-Recht überführt werden. Wann dies der Fall sein soll, bleibt unbestimmt. Auch die zukünftige Ausgestaltung und Funktion des ESM bleibt unkonkret. Zwar soll der ESM um ein „Auffanginstrument“ ergänzt werden, jedoch bleibt offen, was genau darunter zu verstehen ist und wie groß dieses Budget wäre. Zugleich wird im darauffolgenden Satz betont, dass dass Austerität und Konditionalität das „grundlegende Prinzip des ESM-Vertrags und aller ESM-Instrument“ bleiben soll.Ebenso übrigens wie auch der Name des Stabilitätsmechanismus. Der ESM kann (!) in Zukunft unbenannt werden, mittelfristig bleibt er bei seinem Namen, um dem Internationalen Währungsfonds nicht zu düpieren.  Die Austeritätsorientierung bleibt also erhalten und vieles deutet darauhin, dass der ESM nach jenem Vorschlag ausgebaut wird, den zuletzt noch Wolfgang Schäuble Anfang des Jahres in die Eurogruppe eingebracht hatte. Dieser sieht den ESM als Korrektiv für die Krisenpolitik der Kommission vor, welcher noch stärker auf Stabilität und Austerität fokussiert bleibt. Sozusagen als Zuchtmeister für Europa.

Noch weniger konkret wird der Text in Bezug auf das Eurozonenbudget. Dieses soll zwar bis 2021 umgesetzt sein, entspricht jedoch keinesfalls mehr jenen Zielen, welche Emmanuel Macron noch vor seiner Wahl ausgegeben hatte.  So forderte er im Wahlkampf einen umfangreichen Investitionshaushalt, um Ungleichgewichte in der Eurozone auszugleichen und eine stärkere Konvergenz zwischen den Euro-Mitgliedsstaaten zu schaffen. Betont wurde insbesondere, dass ein solches Budget außerhalb des EU-Haushaltes stehen und durch einen eigenständigen Finanzminister verwaltet werden.

In der Meseberger Erklärung ist jener Eurozonenhaushalt jedoch weder eigenständig noch mit einem Finanzminister verknüpft. Stattdessen soll er im EU-Haushalt verankert werden und gleicht in seiner Funktionsweise eher jenem Vorschlag, den Angela Merkel zuletzt in der FAZ formulierte. Nämlich einem eher kleinen Finanztopf zur Förderung von „Investitionen in Innovationen und Humankapital“, wie es auch in der Meseberger Erklärung heißt. Die europäischen Fiskalregeln sollten davon unberührt bleiben und Transfers vermieden werden. Letztendlich lässt sich hier nur spekulieren, denn die Höhe des Eurozonenbudgets bleibt in der deutsch-französischen Erklärung unbestimmt. Sie soll in den Verhandlungen um den mehrjährigen Finanzrahmen der EU geklärt werden, welche jedoch erst in den kommenden Monaten beginnen. Mit der Einbindung in den EU-Haushalt wurde die Streitfrage letzendlich vertragt und auf ein anderes Terrain verschoben, welches bereits jetzt extrem kontrovers ist. Denn aufgrund des Brexits steht weniger Geld für den EU-Haushalt zu Verfügung und viele Länder weigern sich, mehr in den Haushalt einbezahlen zu wollen. Daher scheint es absehbar, dass ein Eurozonenhaushalt sehr klein ausfallen und wahrscheinlich kaum merkliche Auswirkungen haben wird.

Interessant ist jedoch, dass sich in der Frage, wer diesen Topf am Ende verwalten soll, weder Frankreich noch Deutschland, sondern die Europäische Kommission durchgesetzt hat. Während „strategische Beschlüsse zum Haushalt“ der Eurogruppe vorbehalten bleibt, obliegt die konkrete Entscheidungsgewalt über die Ausgaben bei der Kommission, womit diese institutionell gestärkt wird. Vertagt wurde die Entscheidung über die Fiskalkapazität, welche in Form eines „Stabilisierungsfonds für Arbeitslosigkeit“ d.h. einer sog. Arbeitslosenrückversicherung durch eine deutsch-französische Arbeitsgruppe geprüft werden soll.

Schlussendlich lässt sich mit Blick auf die Ergebnisse des deutsch-französischen Treffens sagen, dass die Bundesregierung relativ erfolgreich eine Aufweichung der Stabilitätsorientierung der WWU verhindert hat. Die Vorschläge Macrons schrumpften seit seiner Wahl immer weiter und sind jetzt, etwas mehr als ein Jahr danach, kaum noch wieder zu erkennen. Seine zentralen Projekte wurden soweit abgeschwächt, dass auch eine deutsche Bundesregierung damit leben kann.

Auch ihr ist bewusst, dass sie Macron soweit entgegenkommen muss, dass dieser die Verhandlungen innenpolitisch als Erfolge verkaufen kann, ohne jedoch das deutsche Europaprojekt einer Stabilitätsunion zu gefährden. Dementsprechend berühren die die deutschen Zugeständnisse nicht die wesentliche Ausrichtung der WWU als Stabilitätsunion. Zugleich scheint es mehr als fraglich, ob die deutsch-französischen Kompromisse überhaupt  eine Chance auf Realisierung haben. Viele nordeuropäische Staaten v.a. die Niederlande haben bereits angekündigt, im Rat einen möglichen deutsch-französischen Kompromiss abzulehnen bzw. zumindest kritisch zu prüfen. Man könnte also sagen: Alles bleibt beim Alten, die Eurozone bleibt auf Kurs der Stabilitätsunion.

 

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Wie weiter mit der Eurozone?

Nun hat sich also auch Angela Merkel zu Wort gemeldet: Wie soll die angestrebte »Vertiefung und Vollendung« der Wirtschafts- und Währungsunion aussehen? Welche Vorschläge für die Eurozone liegen auf dem Tisch? Welche Konflikte gibt es? Teil I eines ausführlichen Hintergrunds von Felix Syrovatka vor dem Brüsseler Gipfel Ende Juni. Der Text erschien am 04. und 05.Juni 2018 auf dem Blog der Zeitschrift OXI. Wirtschaft  anders denken.

https://www.flickr.com/photos/chrisgold/8126371893/in/photolist-do6Mfe-oLL61i-oLKXWt-oLL5bn-81R2b1-9aExUg-aw834s-dQ9hjJ-e6rj7f-26QUZbt-9A3SSE-oLu6vp-oJJiyw-aDJ7tP-9A1h9v-cUf1A3-cbjCvS-c1GVz1-arBVNg-aME6Ee-ougMSq-9A3Emy-oJKDhs-aq9UXS-9A1ucF-oLuz5T-8GDLRh-oLup5n-aTgQo4-oLuDVK-7JkhXk-cjeXyY-oJJEeu-ouh4jM-25trfcz-ouhLp5-oLJrb9-oLL32c-eKrxKe-oLuBSr-aME35V-nzNKRM-oJKEF9-aMDQvv-oLJsjG-aMDSik-aME7R2-oLLy34-eKCYvd-aWGwZg
Baustelle Eurozone. Bildquelle: Chris Goldberg via Flickr.com (https://bit.ly/2Jz6DVy) | Lizenz: CC BY-NC 2.0 (https://bit.ly/1jNlqZo)

Ende Juni soll es nun endlich soweit sein. Auf dem Treffen der europäischen Staats- und Regierungschefs in Brüssel Ende Juni soll über die Vorschläge zur »Vertiefung und Vollendung« der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) beraten werden. Fünf Jahre nach dem offiziellen Start der Debatte durch ein Papier der europäischen Präsidenten von Kommission, Rat, EZB und der Eurogruppe scheint es nun endlich ans eingemachte zu gehen. Seitdem wurden zahlreiche Vorschläge und Konzepte entwickelt wie die Eurozone reformiert, vertieft oder erneuert werden kann. Zuletzt hatte das Interview mit Angela Merkel in der »Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung« für Aufregung gesorgt, in der sie ihre Vorstellungen zur Eurozonenreform darlegte.

Aufgrund der Vielzahl an Papiere und Stellungnahmen erscheint jedoch die Diskussion bisweilen unübersichtlich und missverständlich. Eine Übersicht über die verschiedenen Papiere und Vorschläge findet sich hier.

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Wie groß wird das Eurozonenbudget?

Der Aufreger des letzten Jahres schrumpft zu einem Treppenwitz der Geschichte. Das Eurozonenbudget schrumpft zum Zwerg. Macron hatte im Wahlkampf und danach auch auf europäischer Ebene für ein Budget der Eurozone von „mehreren Prozent des BIP“ gestritten. Aus der Logik seines französischen Leitbildes einer europäischen Wirtschaftsregierung ist ein solches Budget essenziell, ermöglicht es doch makroökonomische Spielräume für einen möglichen europäischen Wirtschaftsminister. Der Gedanke hinter einem solchen Budget ist, dass im Fall konjunktureller Probleme, die EU antizyklisch intervenieren, Krisen im Euroraum abfedern und den Euro stabilisieren könnte. Dazu muss das Budget jedoch etwa größer sein und im besten Fall nicht im EU-Budget verankert.

Von der Forderung Macrons scheint nun jedoch nur die Hülle übriggeblieben zu sein. Wie die FAZ und Eurointelligence berichten, hat die Kommission einen ersten Entwurf für ein solches Budget vorgelegt. Das Eurozonenbudget wäre somit Teil des EU-Budgets und soll nicht mehr als 25 Milliarden Euro betragen, gestreckt auf einen Zeitraum von 7 Jahren, was in etwa 3 Milliarden pro Jahr sind. Das BIP der Eurozone pro Jahr liegt bei ca. 10 Billionen. Ich musste die Zahlen auch mehrmals lesen, um zu verstehen, was das eigentlich soll. Denn letztendlich wäre das Budget so groß wie 0.03% des BIP und damit in Krisenzeiten sinnlos. Es wäre ein Witz.

Aus dem sinnvollen Vorschlag der französischen Regierung hin zu einer Vertiefung der Währungs- und Wirtschaftsunion vor dem Hintergrund des Leitbilds der europäischen Wirtschaftsregierung ist ein Treppenwitz geworden. Merkel und die Deutsche Bundesbank verteidigen eisern das deutsche Leitbild der Stabilitätsunion. Wie auch schon 2012, als der frischgewählte Francois Hollande, mehr Investitionen forderte und sein Wachstumspakt so klein ausfiel, das niemand bemerkte, dass es ihn gab. So ähnlich wird es wohl auch dem Eurozonenbudget in Zukunft ergehen…

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Kein Bruch mit dem Spardiktat

Im Dezember haben Etienne Schneider und ich einen Text in der PROKLA veröffentlicht, in dem wir argumentieren, dass der deutsch-französischen Bilitarialismus in Fragen der europäischen Wirtschaftsintegration blockiert ist. So stehen sich das deutsche Leitbild der Stabilitätsunion und das französische Leitbild der Wirtschaftsregierung unvereinbar gegenüber und blockieren somit einen Kompromiss, der eine tiefere Integration und eine Lösung der fundamentalen Probleme der Eurozone ermöglichen würde. Seitdem ist viel passiert.

So haben 14 deutsch-französische Ökonomen Anfang Januar ein gemeinsames Papier veröffentlicht, von dem  ein Impuls ausgehen sollte, diese Blockade aufzulösen. Ziel des Papiers war es einen „Kompromiss“ zwischen den beiden Position zu formulieren, um „Risikoteilung und Marktdisziplin in Einklang“ zu bringen. Dabei wurden weniger neue Forderungen formuliert, als Altbekanntes erneut zur Diskussion gestellt. Die gemeinsame Einlagensicherung wurde ebenso beschworen wie die Eigenkapitalunterlegung bei Staatsanleihen oder die europäische sichere Anlage. Auch die Ausweitung des ESM zu einem Europäischen Währungsfonds (EWF – wie er eigentlich schon beschlossene Sache ist) wurde implizit angesprochen sowie die Forderung nach einer gemeinsamen Fiskalkapazität (einer alten Forderung der Franzosen). Neu dagegen waren drei Punkte:

  • Abschwächung der Fiskalregeln durch den Fokus auf eine längerfristige Haushaltstabilisierung. Zugleich jedoch sieht das Papier die Schaffung eines Strafmechanismus vor, der die Defizitländer dazu zwingen soll, „überschießende Ausgaben durch nachrangige Staatsanleihen (‚Accountability Bonds‘)“ (S.5) zu finanzieren, womit sie dem Druck der Kapitalmärkte direkt ausgesetzt wären. Dies hätte einen stärkeren Zwangscharakter zu Reduzierung der Ausgabenlast „als die derzeitige Androhung von Strafen, die noch nie durchgesetzt wurden“ (ebd.)
  • Die Schaffung eines Insolvenzmechanismus für Staaten. Dazu gab es einige Diskussionen sowohl von links als auch von rechts (Kritik an der Idee siehe bspw. in der ZEIT). Das Papier spricht sich dafür aus, dass eine geordnete Schuldenrestrukturierung stattfinden soll, jedoch nicht als Automatismus.
  • Die Installation einer externen Institution für eine stärkere Überwachung der Wirtschaftspolitiken in der Eurozone. Diese Institution soll entweder von der Kommission oder vollständig extern kontrolliert werden. In diesem Sinne war weder von Rechenschaftspflicht, noch von einer demokratischen Mitbestimmung des Parlaments die Rede. Einzig der ESM, der zur alleinigen Kreditvergabeinstitution ausgebaut wird, soll „einem Ausschuss des Europäischen Parlaments die Hilfsprogramme erläutern und rechtfertigen“, muss jedoch keine Mitbestimmung durch das Parlament selbst befürchten (S. 7)

Insgesamt gehen die Vorschläge der Ökonomen nicht über die geführte Diskussion hinaus und brechen aus meiner Sicht auch die Widersprüchlichkeit zwischen den beiden deutsch-französischen Leitbildern nicht auf. So ist zwar in einem Satz von einem hauptamtlichen Eurogruppenchef die Rede, jedoch davon nicht welche Aufgaben er besitzt. Vielmehr scheint es, dass durch die Ausgliederung der wirtschaftspolitischen Überwachung in eine externe Institution (die noch weniger demokratisch überwacht werden kann als die Kommission), der Forderung von Kommissionpräsident Jean-Claude Juncker nach einem Eurozonenkommissar, zuvorgekommen werden soll. Ein Eurozonenkommissar würde damit letztendlich zu einem Pappkameraden werden, eingeklemmt zwischen dem mächtigen EWF und einer neuen wirtschaftspolitischen Überwachungskommission. Zugleich bleibt es weiterhin mehr als fraglich, ob die progressiven Vorschläge, wie etwa eine gemeinsame Fiskalkapazität oder die Aufweichung der Fiskalregeln in der aktuellen politischen Gemengelage überhaupt durchsetzbar wären.

Dies zeigt etwa ein Blick auf den Entwurf des Koalitionsvertrags zwischen SPD und CDU. Dieser wurde von der Presse gefeiert, da das Europakapitel nun an erster Stelle steht. Dies sei ein Zeichen an die Macron-Administration, dass man es ernst meine mit Europa. Ein genauer Blick zeigt jedoch vor allem ein Festhalten am altbekannten Leitbild der Stabilitätsunion. Der Fokus bleibt auf Währungsstabilität und Wettbewerbsfähigkeit ergo Austerität und Lohnzurückhaltung.

So steht neben vielen Allgemeinplätzen und pathetischen Bekenntnissen zur Europäischen Union  etwa folgender Satz:

Dabei bleibt der Stabilitäts- und Wachstumspakt auch in Zukunft unser Kompass. Stabilität und Wachstum bedingen einander und bilden eine Einheit. Zugleich muss auch künftig das Prinzip gelten, dass Risiko und Haftungsverantwortung verbunden sind.“ (S.9).

Dies bedeutet nichts anderes, als dass auch in Zukunft nicht mit einer europäischen Wirtschaftsregierung zu rechnen ist, wie sie sich Macron und die französischen Regierungen vor ihm ausgemalt hatten. Auch insgesamt findet sich kein Wort zu den französischen Vorschlägen eines europäischen Finanzministers oder einer Fiskalkapazität. Vielmehr wurde der deutsche Vorschlag eines kleinen Eurozonenbudgets wieder aufgenommen, der jedoch im Rahmen des EU-Haushalts verbleiben und an die „Strukturreformen“ (S.8) geknüpft werde soll. Dies ist jedoch nichts anderes als der Plan einer weiteren „Zuckerbrot-und-Peitschen“-Regelung, wie sie bereits mehrfach auch im 5-Präsidentenpapier oder in der Reform der Kohäsionsfondsrichtlinien angeklungen sind. Der von Martin Schulz gefeierte „Investitionshaushalt“ steht übrigens nur in einem Nebensatz und dort auch nur im Konjunktiv. Ein Durchbruch oder gar ein Zugeständnis an Macron sieht wirklich anders auch.

Daneben findet sich im Koalitionsvertrag ein eindeutiger Satz zum Europäischen Währungsfonds (EWF). Dieser soll den ESM ersetzen und fortan die Kreditvergabe an notleidende Eurozonenländer regeln. Der EWF wurde sowohl von Seiten der deutschen Bundesbank und des Finanzministeriums als auch von französischer Seite befürwortet. Unter dem Begriff verstehen jedoch beide Seiten etwas vollkommen anderes. Während Frankreich den EWF als eine Institution mit Investitionsrecht konzipiert hat, sieht die deutsche Seite darin primär einen neuen Hebel zur Durchsetzung von Fiskaldisziplin und Austeritätspolitik. Ein Entgegenkommen an die französische Position in Fragen der europäischen Wirtschaftsintegration kann daher nicht in diesem Satz hineininterpretiert werden, trotz der Beschwörung des deutsch-französischen „Innovationsmotors“ (S. 9).

Interessant ist jedoch ein ganz anderer Absatz im Koalitionsvertrag. Nämlich jener, in dem die Europäische Arbeitsmarktpolitik verhandelt wird. So steht auf Seite 7 folgender Satz:

„Wir wollen einen Rahmen für Mindestlohnregelungen sowie für nationale Grundsicherungssysteme in den EU-Staaten entwickeln. Wer konsequent gegen Lohndumping und soziale Ungleichheiten in wirtschaftlich schwächeren Ländern in Europa kämpft, sichert auch den Sozialstaat und die Soziale Marktwirtschaft in Deutschland“

Hier scheinen sich die Koalitionäre zum einen auf die umstrittene Reform der Entsenderichtlinie zu beziehen und ihre Zustimmung zu französischen Position zu bekräftigen. Aber wenn man den Satz genauer liest, steht hier ein viel interessanterer Punkt drin. So scheinen beide Parteien dazu gewillt zu sein, gemeinsame europäische Regelungen für Mindestlöhne und Grundsicherungen zu schaffen. Damit beziehen sie sich auf die Europäischen Säule Sozialer Rechte und des darin postulierten Rechts auf „angemessene Mindestlöhne“. Zwar war diese Formulierung nicht nur Wage, sondern zugleich auch nicht verbindlich, jedoch hatte Daniel Seikel bereits im Dezember in einem WSI Policy Papier argumentiert, dass dies ein Ansatzpunkt für eine „europaweit koordinierte Mindestlohnpolitik genutzt werden“ (S.7) könnte (vgl. auch Schulten/Müller 2017). Dabei scheint es hier jedoch besonders wichtig zu sein, genau hinzuschauen, wie genau diese Regelung am Ende aussehen wird. Ich persönlich bin doch sehr skeptisch, ob dies eine Wende in der europäischen Lohnpolitik einleiten wird.

Zusammengefasst könnte man also sagen, dass irgendwie alles beim alten geblieben ist. Während sich das Papier der „Top-Ökonomen“ (SPIEGEL ONLINE) wenigstens die Mühe gemacht hat, mögliche Kompromisspositionen zu formulieren, bleibt der Entwurf des Koalitionsvertrag eine Zementierung der deutschen Position einer europäischen Stabilitätsunion. Ein Bruch mit dem „europäischen Spardiktat“, wie Martin Schulz den Koalitionsvertrag genannt hat, sieht anders aus. Ganz anders. Für die Eurozone und ihre Probleme scheinen daher keine Lösung am politischen Horizont erschienen zu sein. Dies ist jedoch ist hoch problematisch, sind doch weiterhin massive Risiken in den Bankbilanzen und auch im Euroraum versteckt. Die starken Kursschwankungen an den weltweiten Börsen haben zudem gezeigt, dass die aktuelle Situation an den Finanzmärkten höchst volatil ist und eine erneute Krise schneller kommen kann als man denkt. Auf einen erneuten Einbruch der Weltwirtschaft scheint die Eurozone jedoch nicht vorbereit zu sein. Dies hat der französische Finanzminister Bruno Le Maire letztens noch einmal betont, als er sich zugleich gegen einen, von Deutschland präferierten automatischen Insolvenzmechanismus für Staaten in der Eurozone wehrte. Die EU braucht resiliente und demokratische Strukturen, um einen erneuten Wirtschaftseinbruch zu überstehen. Diese sind jedoch aufgrund der aktuell blockierten Kompromissdynamik jedoch nicht zu erkennen.